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Availability Bias: Warum wir so viele Risiken völlig falsch einschätzen

Ich lese zur Zeit gerade „The Black Swan„. In dem Buch geht es um die Frage, warum wir Menschen immer wieder überrascht werden von Dingen, die wir fälschlicherweise für nicht möglich hielten; und wie man solchen Ereignissen, falls sie Gefahren darstellen, besser vorbeugen kann. (Ähnlich dem Truthahn, dessen Vertrauen in die Menschen, die ihn täglich füttern, von Tag zu Tag wächst, bis eines Tages Thanksgiving vor der Tür steht…)

Eine der Ursachen für Risiko-Fehleinschätzungen wurde heute ausführlich in der Sonntagszeitung dargestellt. Zwar ist der Begriff „Availability Bias“ etwas seltsam übersetzt, aber interessant ist er trotzdem, wenn man sich wirklich mit Krisenprävention beschäftigt und The Black Swan nicht gelesen hat. Im folgenden der Artikel in voller Länge:

 

Warum wir lieber einen falschen Stadtplan verwenden als gar keinen

Klarer denken mit Rolf Dobelli: Availability Bias

Oft hört man Sätze wie: «Er hat sein Leben lang jeden Tag drei Päckchen Zigaretten geraucht und wurde über hundert Jahre alt. So schädlich kann Rauchen also nicht sein.» Oder: «Zürich ist sicher. Ich kenne jemanden, der lebt mitten im Niederdorf. Der schliesst seine Tür nie ab, nicht einmal, wenn er in den Urlaub fährt, und noch nie wurde bei ihm eingebrochen.» Solche Sätze wollen irgendetwas beweisen – doch sie beweisen überhaupt nichts. Leute, die so reden, sind dem Availability Bias verfallen, übersetzt etwa: «Fehleinschätzung der Verfügbarkeit».

Gibt es mehr deutsche Wörter, die mit einem R anfangen, oder mehr, die mit einem R aufhören? Antwort: Es gibt mehr als doppelt so viele deutsche Wörter, die mit einem R enden, als solche, die mit einem R beginnen. Warum liegen die meisten, denen diese Frage gestellt wird, falsch? Weil uns Wörter, die mit einem R anfangen, schneller einfallen. Anders ausgedrückt: Sie sind verfügbarer.

Der Availability Bias besagt Folgendes: Wir machen uns ein Bild der Welt anhand der Einfachheit, mit der uns Beispiele einfallen. Was natürlich idiotisch ist, denn draussen in der Wirklichkeit kommt etwas nicht häufiger vor, nur weil wir es uns besser vorstellen können.

Wegen des Availability Bias spazieren wir mit einer falschen Risiko-Karte im Kopf durch die Welt. So überschätzen wir systematisch das Risiko, durch einen Flugzeugabsturz, Autounfall oder Mord umzukommen. Und wir unterschätzen das Risiko, durch weniger sensationelle Arten zu sterben wie Diabetes oder Herzinfarkt. Bombenattentate sind viel seltener, als wir meinen, Depressionen viel häufiger. Allem, was spektakulär, grell oder laut ist, schreiben wir eine zu hohe Wahrscheinlichkeit zu. Allem, was stumm und unsichtbar ist, eine zu tiefe. Das Spektakuläre, Grelle, Laute ist im Hirn verfügbarer als das Gegenteil. Unser Hirn denkt dramatisch, nicht quantitativ.

Ärzte fallen dem Availability Bias besonders häufig zum Opfer. Sie haben ihre Lieblingstherapien, die sie auf alle möglichen Fälle anwenden. Es gäbe vielleicht passendere Behandlungen, aber sie sind ihnen gedanklich nicht präsent. Also praktizieren sie, was sie kennen. Unternehmensberater sind nicht besser. Treffen sie auf eine völlig neue Situation, werden sie nicht die Hände verwerfen und seufzen: «Ich weiss wirklich nicht, was ich Ihnen raten könnte.» Nein, sie werden einen der ihnen geläufigen Beratungsprozesse in Gang setzen – ob er passt oder nicht.

Wird etwas oft wiederholt, machen wir es unserem Hirn sehr leicht, es wieder abzurufen. Dabei muss es gar nicht wahr sein. Wie oft hat die Naziführung das Wort «Judenfrage» wiederholt, bis die Massen überzeugt waren, dass ein ernsthaftes Problem vorliegt? Man muss die Wörter UFO, Lebensenergie oder Karma nur oft genug wiederholen – plötzlich glaubt man daran.

Auch in den Verwaltungsratssesseln steckt der Wurm des Availability Bias tief drin. Die Herren diskutieren über das, was das Management ihnen vorlegt – meistens Quartalszahlen – statt über Dinge, die ihnen das Management nicht vorlegt, die aber wichtiger wären, zum Beispiel ein geschickter Schachzug der Konkurrenz, das Absacken der Motivation der Belegschaft oder eine unerwartete Veränderung des Kundenverhaltens.

Ich beobachte es immer wieder: Menschen verwenden in erster Linie Daten oder Rezepte, die einfach zu beschaffen sind. Auf dieser Basis treffen sie Entscheidungen – oft mit verheerenden Resultaten. Beispiel: Seit zehn Jahren weiss man, dass die sogenannte Black-Scholes-Formel für die Preisberechnung von derivativen Finanzprodukten nicht funktioniert. Aber man hat keine andere. Also verwendet man lieber eine Formel, die falsch ist, als gar keine. So hat der Availability Bias den Banken Milliardenschäden beschert. Es ist, als wäre man in einer fremden Stadt ohne Stadtplan. In der Tasche findet man die Karte einer anderen Stadt, also verwendet man diese. Lieber eine falsche Karte als gar keine.

Wie hat schon Frank Sinatra gesungen: «Oh, my heart is beating wildly. / And its all because youre here. / When Im not near the girl I love, / I love the girl Im near.» Zusammengefasst: Wenn ich nicht in der Nähe des Mädchens bin, das ich liebe, liebe ich das Mädchen, das in der Nähe ist.

 

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