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Wo man hinschaut, da fährt man hin. Wohin wollen wir?

Jede Motorradfahrerin und jeder Motorradfahrer lernt, in einer Kurve nicht direkt nach vorne zu schauen, sondern ganz weit nach vorne in die Richtung, in die man fahren will. Denn dort, wo man hinschaut, da fährt das Motorrad fast automatisch hin. Es handelt sich um ein sehr einfaches Prinzip, das einem sicher durch die Kurve hilft. Daran sollten wir auch jetzt denken, während der vermutlich schlimmsten Pandemie des Jahrhunderts. (Hoffen wir, dass nicht noch eine schlimmere kommt.)

In welche Richtung wollen wir?

Matthias Horx, «der renommierteste Zukunftsforscher im deutschsprachigen Raum» hat in den Medien seine Erwartungen an die Zeit nach Corona zum Besten gegeben und ich stimme ihm weitgehend zu.

«Ich werde derzeit oft gefragt, wann Corona denn “vorbei sein wird”, und alles wieder zur Normalität zurückkehrt. Meine Antwort: Niemals. Es gibt historische Momente, in denen die Zukunft ihre Richtung ändert. Wir nennen sie Bifurkationen. Oder Tiefenkrisen. Diese Zeiten sind jetzt. …

Die Welt as we know it löst sich gerade auf. Aber dahinter fügt sich eine neue Welt zusammen, deren Formung wir zumindest erahnen können. Wir werden uns wundern, dass die sozialen Verzichte, die wir leisten mussten, selten zu Vereinsamung führten. Im Gegenteil. Nach einer ersten Schockstarre führten viele von sich sogar erleichtert, dass das viele Rennen, Reden, Kommunizieren auf Multikanälen plötzlich zu einem Halt kam. Verzichte müssen nicht unbedingt Verlust bedeuten, sondern können sogar neue Möglichkeitsräume eröffnen. Das hat schon mancher erlebt, der zum Beispiel Intervallfasten probierte – und dem plötzlich das Essen wieder schmeckte. Paradoxerweise erzeugte die körperliche Distanz, die der Virus erzwang, gleichzeitig neue Nähe. Wir haben Menschen kennengelernt, die wir sonst nie kennengelernt hätten. Wir haben alte Freunde wieder häufiger kontaktiert, Bindungen verstärkt, die lose und locker geworden waren. Familien, Nachbarn, Freunde, sind näher gerückt und haben bisweilen sogar verborgene Konflikte gelöst.

Wir werden uns wundern, wie schnell sich plötzlich Kulturtechniken des Digitalen in der Praxis bewährten. Tele- und Videokonferenzen, gegen die sich die meisten Kollegen immer gewehrt hatten (der Business-Flieger war besser) stellten sich als durchaus praktikabel und produktiv heraus. Lehrer lernten eine Menge über Internet-Teaching. Das Homeoffice wurde für Viele zu einer Selbstverständlichkeit – einschließlich des Improvisierens und Zeit-Jonglierens, das damit verbunden ist.

Gleichzeitig erlebten scheinbar veraltete Kulturtechniken eine Renaissance. Plötzlich erwischte man nicht nur den Anrufbeantworter, wenn man anrief, sondern real vorhandene Menschen. Das Virus brachte eine neue Kultur des Langtelefonieren ohne Second Screen hervor. Auch die “messages” selbst bekamen plötzlich eine neue Bedeutung. Man kommunizierte wieder wirklich. Man ließ niemanden mehr zappeln. Man hielt niemanden mehr hin. So entstand eine neue Kultur der Erreichbarkeit. Der Verbindlichkeit.

Menschen, die vor lauter Hektik nie zur Ruhe kamen, auch junge Menschen, machten plötzlich ausgiebige Spaziergänge (ein Wort, das vorher eher ein Fremdwort war). Bücher lesen wurde plötzlich zum Kult. …

Erstaunlicherweise machen viele in der Corona-Krise genau diese Erfahrung. Aus einem massiven Kontrollverlust wird plötzlich ein regelrechter Rausch des Positiven. Nach einer Zeit der Fassungslosigkeit und Angst entsteht eine innere Kraft. Die Welt “endet”, aber in der Erfahrung, dass wir immer noch da sind, entsteht eine Art Neu-Sein im Inneren. Mitten im Shut-Down der Zivilisation laufen wir durch Wälder oder Parks, oder über fast leere Plätze. Aber das ist keine Apokalypse, sondern ein Neuanfang.

Wandel beginnt als verändertes Muster von Erwartungen, von Wahr-Nehmungen und Welt-Verbindungen. Dabei ist es manchmal gerade der Bruch mit den Routinen, dem Gewohnten, der unseren Zukunfts-Sinn wieder freisetzt. Die Vorstellung und Gewissheit, dass alles ganz anders sein könnte – auch im Besseren.

Jede Tiefenkrise hinterlässt eine Story, ein Narrativ, das weit in die Zukunft weist. Eine der stärksten Visionen, die das Coronavirus hinterlässt, sind die musizierenden Italiener auf den Balkonen. Die zweite Vision senden uns die Satellitenbilder, die plötzlich die Industriegebiete Chinas und Italiens frei von Smog zeigen. 2020 wird der CO2-Ausstoss der Menschheit zum ersten Mal fallen. Diese Tatsache wird etwas mit uns machen.

Wenn das Virus so etwas kann – können wir das womöglich auch? Vielleicht war der Virus nur ein Sendbote aus der Zukunft. Seine drastische Botschaft lautet: Die menschliche Zivilisation ist zu dicht, zu schnell, zu überhitzt geworden. Sie rast zu sehr in eine bestimmte Richtung, in der es keine Zukunft gibt.»

Ganz ähnliche Gedanken hatte ich mir auch schon gemacht. Denn was Matthias Horx da beschreibt, passiert schon jetzt. Ich könnte viele Beispiele nennen. Gestern schrieb mir ein Kollege aus dem Gemeinderat Dietikon, er beobachte gerade ein Elstern-Paar, das ein Nest baute. Wann zuvor hatte er wohl das letzte Mal die Musse, einfach nur aus dem Fenster zu schauen? Die Menschen gehen auf einmal wieder hinaus in die Natur, weil sie genug von den Horror-News haben und die Kneipen geschlossen sind.

Wir erleben einerseits eine Entschleunigung des Alltags und andererseits eine erhebliche Steigerung der Produktivität; bei den Firmen, die noch Arbeit haben und digital gerüstet sind.

Zumindest mir geht es so, denn nach Jahren des Werbens für Video-Meetings statt physischer Meetings, machen meine Klienten und Partner endlich mit (es bleibt ihnen ja auch gar nichts mehr übrig). Seit der dritten Februarwoche, als wir uns freiwillig in Quarantäne begaben, um nicht zur viralen Verbreitung beizutragen, habe ich ganz viel Reisezeit eingespart und in den ersten beiden Wochen so viel Fortschritt bei bei meinem vierten Buch gemacht, einem Campaigning-Manual, wie zuvor nicht in zwei Jahren.

Sehr viele von uns haben nun mehr Zeit zum Lesen, zur Achtsamkeit auf die kleinen Dinge und für die Pflege der mitmenschlichen Beziehungen. Denn im Videochat kann man sich spontaner treffen, als in der Realität. (Das ist kein Widerspruch zum Gegentrend, dem Ansteigen häuslicher Gewalt und von Depressionen. Es passiert beides. )

Wir sollten uns nun auch Zeit zum Nachdenken nehmen und uns die Frage des Motorradfahrers stellen: In welche Richtung soll es gehen?

In jeder Krise stecken neben den Gefahren auch noch Chancen. Das chinesische Schriftzeichen für Krise besteht deshalb aus zwei Zeichen, einem für Gefahr und einem für Chance.

Liegt es am Bewusstsein hierfür, dass die asiatische Welt, anders als die westliche, so schnell und entschlossen reagiert hat? Weil man die Chancen im vorübergehenden Opfern der Produktivität erkannte?

Die kleine Schweiz ist aktuell weltweit an 9. Stelle bei der absoluten Zahl der offiziell Erkrankten. Obwohl diese Zahl sicher noch zu klein ist, weil sie in Bern noch mit dem Zählen von Faxen beschäftigt sind. («Kontrollverlust beim Bundesamt für Gesundheit: «Die Zahl der Todesfälle haben wir aus Wikipedia entnommen») Im besten Fall werden wir über 5’000 Tote beklagen zu haben, wahrscheinlich sind sogar zehntausende.

Eine Bekannte sagte vorgestern, in Italien hätten sie die Wirtschaft geopfert, um die Menschen zu schützen, in der Schweiz die Menschen, um die Wirtschaft zu schützen. Ich bin mir da nicht so sicher. Unsere Regierung hätte zwar schneller handeln müssen, konnte es aber nicht, weil sich zu viele Bürgerinnen und Bürger weigerten, die alte Welt loszulassen, die schon nicht mehr zu retten war, als der erste Infizierte im Tessin diagnostiziert war. Die alte Welt vor Corona, wie wir sie kannten und die wir für so unerschütterlich sicher hielten, ist vorbei. Ich würde eher sagen, wir haben unsere Menschen und – weil wir zu lange zögerten auch noch – unsere Wirtschaft geopfert, um eine Nostalgie zu schützen, die sowieso schon hoffnungslos verloren war, nämlich die Welt vor Corona.

Mit dem Blick auf die Chancen hätte man vielleicht schneller handeln können. Seit zwei Tagen gibt es in China keine Neuansteckungen mehr, in Italien sterben die Menschen aber immer noch, das Land hat China bei der Zahl der Toten schon überholt.

Was also nun tun, in welche Richtung wollen wir uns bewegen?

Seit Jahrzehnten fordern Wissenschaftler und Umweltschützer, dass die Klimakrise ernst genommen wird. Dabei erging es uns wie dem Arzt in Wuhan, der vor dem neuen Corona-Virus warnte. Man hat uns nicht ernst genommen. Dann kam Greta. Nun Corona. Man darf Fehler machen, aber man sollte daraus lernen.

Die durch menschliche Aktivitäten verursachten CO2-Emissionen legen 2020 eine Pause an, aber wenn wir nichts ändern, werden sie weiter ansteigen und die Welt wird auf bestem Weg sein, sich um 3° C gegenüber dem vorindustriellen Niveau zu erwärmen (globale Durchschnittstemperatur).

Die Klimakrise ist langsam und – aber nicht weniger real und nicht weniger tödlich als Corona. So wie wir eigentlich wussten, dass es jederzeit zu einer Pandemie globalen Ausmassen kommen könnte und zu lange die Augen davor verschlossen haben, haben wir auch die notwendigen Massnahmen gegen die Klimakatastrophe auf die lange Bank geschoben.

Die Coronakrise beweist, dass es möglich ist, dramatische Veränderungen zustande zu bringen, um Leben zu retten. Anders als beim Coronavirus müssen wir beim Klimawandel aber nicht so überstürzt handeln. Wir können uns ein klein wenig mehr Zeit lassen.

«Nach» Corona müssen wir unsere Wirtschaft neu gestalten. Wir werden sie digitalisieren und hoffentlich rundum erneuern, um in Zukunft besser gewappnet zu sein.

Ganz sicher braucht es dazu Konjunkturprogramme und andere unterstützende Massnahmen durch den Staat.

Wenn wir dies schon tun müssen, dann sollten wir die Transformation ausnahmslos so gestalten, dass sie in Richtung Klimawandel-Minimierung und nachhaltige Kreislaufwirtschaft führt.

Eine solche Chance wie jetzt, nachdem uns zuerst ein kleines Mädchen die Augen geöffnet hat und dann ein kleines Virus eine Vollbremsung verpasste, werden wir rechtzeitig nicht mehr bekommen. Die Coronakrise beinhaltet deshalb auch einen Funken Hoffnung, dass wir beim Klimawandel die Kurve vielleicht doch noch kratzen. Nutzen wir sie. Mit Zuversicht in die Zukunft.

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