“Was ist das für ein Land, in dem unter Ökonomen Konsens herrscht, dass der volkswirtschaftliche Schaden nur durch die entschlossene Eindämmung der Epidemie minimiert werden kann, in dem aber jede Anti-Covid-Massnahme vom lautstarken Gebrüll irgendwelcher Wirtschaftsverbände begleitet und häufig tatsächlich verhindert wird? Besteht die eigentliche Regierung der Eidgenossenschaft aus dem Hotellerie-Verband und Gastro Suisse? Ist «Seilbahnen Schweiz» die oberste Autorität für Entscheide über Leben und Tod?

Wir konnten uns lange an die Überzeugung klammern, Fragen dieser Art seien polemische Überspitzungen. Schliesslich schien in Granit gemeisselt: In der Schweiz pflegen die Dinge zwar immer quälend lange zu dauern, dafür triumphiert am Ende die Vernunft auch verlässlicher als andernorts. Im Land mit der besten Bunkerinfrastruktur der Welt und einem der teuersten Gesundheitssysteme wird man schutzbedürftige Mitbürger ganz gewiss nicht kaltschnäuzig ihrem Schicksal überlassen. Die Nation mit einem der höchsten Wohlstandsniveaus überhaupt und einem der niedrigsten Verschuldungsgrade in ganz Europa wird alles Menschenmögliche tun, um ihre Bürgerinnen an Leib und Leben zu schützen. Was könnte evidenter sein?
Es mag unangenehm sein, aber wir müssen diese Evidenzen von Grund auf revidieren: Dieses Land sind wir nicht. Auch weiterhin ist eine umsichtige, konsequente, langfristige Covid-Strategie nicht in Sicht. Weiterhin sterben jeden Tag über 80 Menschen, jede Woche deutlich über 500. Von kollektivem Entsetzen und der Forderung nach radikalen Gegenmassnahmen spürt man in der Politik weiterhin nur wenig. Im Gegenteil: Der grosse nationale Notstand sind nicht die Todesopfer, sondern der Skitourismus. Bis Ende Jahr werden wohl über 6000 Bürgerinnen und Bürger der Epidemie zum Opfer gefallen sein. Wir hätten es verhindern können, aber wir werden es nicht verhindern. Das ist nicht, wer wir sind. Wir haben anders entschieden.
Inzwischen stellt sich nun auch so etwas wie eine Frage der Zurechnungsfähigkeit.”
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