Aus der heutigen Limmattaler Zeitung:
Ein brisantes Buch zeigt erstmals, wie Linke und Alternative plötzlich zu Coronaskeptikern und Verschwörungstheoretikerinnen mutieren.
Julian Schütt
Wir alle haben dieses Völkchen kennen gelernt, Menschen aus dem Mittelstand, die wir ursprünglich meist dem progressiv-linken oder grün-alternativen Spektrum zuordneten, doch während der Coronapandemie hatten sie ihr Coming-out: Plötzlich vertraten sie Verschwörungstheorien, taten den Bundesrat als «Diktatur» und die «Mainstream»-Medien als «gleichgeschaltet» ab, protestierten auf der Strasse gegen die Covid-Massnahmen, die ihre individuelle Freiheit beschnitten. Und sie schotteten sich auf Demos kaum gegen die mitmarschierenden Rechtspopulisten und Rechtsextremen ab.
Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey vom Fachbereich Soziologie der Uni Basel haben den Kontakt zu dieser Szene der «Querdenker» und Coronaleugnerinnen gesucht. 1150 Personen aus Deutschland und der Schweiz antworteten auf ihre Online-Umfrage. Mit 45 von ihnen führten Amlinger und Nachtwey längere Interviews. Zudem beobachteten sie zahlreiche Demos und durchkämmten das Internet, vor allem Telegram. Die aufschlussreichen Forschungsergebnisse haben sie nun in einem lesenswerten, wenn auch nicht theorieabstinenten Buch veröffentlicht.
Rabiate Gewaltfantasien sind weit verbreitet
Die Querdenkerinnen und Impfgegner handeln äusserst autoritär, obwohl sie eher antiautoritär sozialisiert wurden. Sie identifizieren sich bis jetzt aber kaum mit neuen Führerfiguren wie Putin, sondern wollen nur ihre persönliche Freiheit mit rabiater Vehemenz verteidigen. Manche haben Gewaltfantasien und wollen Widersacher wie «die» Regierung oder Virologen hart bestrafen.
Sie tun das aus einem Gefühl der Ohnmacht heraus, weil ihre eigene Freiheit immer mehr eingeschränkt wird. Deshalb sprechen Amlinger und Nachtwey von einem «libertären Autoritarismus». Der ist, so die Forscher, ein Produkt unserer spätmodernen kapitalistischen Gesellschaft, in der das einzelne Individuum sich beständig anpassen, flexibel sein, sich neu justieren muss. Es ist wie auf einer Rolltreppe, die nach unten fährt. Um den Abstieg zu vermeiden, muss man die Treppe hochsteigen, sich dauernd bewegen, die Performance bringen. Selbstmanagement ist gefragt, das aber keine frei gewählte Option mehr ist, sondern eine Anforderung. Diesem Zustand sind wir Spätmodernen allesamt ausgesetzt, ohne dass wir alle zum Querdenken neigen.
Es kommt für Amlinger und Nachtwey noch etwas hinzu: Faktisch sind wir heute so frei wie nie. Demokratische Rechte gelten als gesichert, was dazu führen kann, dass manche Menschen sich um die Demokratie nicht mehr gross kümmern. Ebenso foutieren sie sich um die politische Freiheit im Allgemeinen. Doch ihre individuelle Freiheit verteidigen sie wie einen persönlichen Besitz. Das ist der Kern des libertären Denkens. Man will nicht mehr wahrhaben, dass Freiheit immer nur relativ innerhalb einer Gesellschaft mit ihren Institutionen, Regeln und Zwängen möglich ist, an die man sich anpassen muss.
Amlinger und Nachtwey nennen ihr Buch «Gekränkte Freiheit». Das spätmoderne Individuum entwickelt ein absolutes Freiheitsgefühl und übersteigerte Bedürfnisse, doch trotz aller Selbstoptimierungsversuche kann es seine Bedürfnisse nicht mehr wunschgemäss umsetzen. Das macht die Frustrierten anfällig für libertär-autoritäre Einstellungen. Manche rebellieren dann nicht mehr gegen reale Konflikte, sondern gegen die Realität schlechthin. Um den Durchblick zu behalten, driften sie aus der Wirklichkeit in Scheinwelten ab, in denen alles Sinn macht. Es ist gleichwohl keine einheitliche Bewegung. Es tummeln sich da wohlsituierte Familien mit Kindern, Künstlerinnen, Intellektuelle, Alt-Hippies, Öko-Fundis, Esoterikerinnen und natürlich allerlei Rechtsstehende.
Es gibt allerdings beunruhigende Gemeinsamkeiten: einen Hang zu Verschwörungstheorien, Ermächtigungsfantasien und wüsten Herabsetzungen von Andersdenkenden. Auch Antisemitismus ist weit verbreitet. Hinzu kommt die fehlende Abgrenzung von AfD, Reichsbürgern und anderen Rechtsextremen. Im Gegenteil, die meisten Befragten der Studie von Amlinger/Nachtwey entwickelten sich selbst nach rechts, was sie nicht daran hindert, sich mit Opfern des Nationalsozialismus zu vergleichen.
Oft reden sie wie früher
die Linksengagierten
Diese politische Konversion von links nach rechts erklärt auch, warum die Querdenkenden viele Begriffe und Denkbewegungen übernehmen, die einst linken Avantgarden vorbehalten waren. Ihnen geht es um Kritik am Mainstream, um Gegenaufklärung, um den Kampf gegen das Establishment, um die Enthüllung der Wahrheit, die niemand hören will. Da sie sich in einer «Diktatur» wähnen, fühlen sie sich nicht mehr an demokratische Normen gebunden.
Amlinger/Nachtwey sehen bei den libertären Autoritären noch keine totale Ablehnung des Staates und kein Abgleiten in Gewalt. Aber die Frage stellt sich schon, ob eine Ausweitung der Kampfzonen bevorsteht, wenn der Ukraine-Krieg und die Energiekrise neue Einschränkungen der persönlichen Freiheit zur Folge haben werden. Falls gravierende staatliche Sparmassnahmen drohen, ist nicht auszuschliessen, dass sich die libertären Autoritären weiter radikalisieren. Insofern ist das Buch von Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey erschreckend brisant.
Hinweis
Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey: Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus, Suhrkamp, 478 Seiten.
Aus dem E-Paper vom 28.10.2022